Was ich an meinem Beruf so liebe: Freiheit und Kreativität

Es ist ein verbreiteter Irrglaube, dass Programmierung nur ein Job für verbiesterte Tüftler, stubenhockerische Mathegenies und trockene Zahlenschubser ist. Nach fast 30 Jahren Berufserfahrung weiß ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Programmierung hat viel mit Kreativität und einem schöpferischen Prozess zu tun – und auch da bin ich Expertin, ich bin ja schließlich auch Künstlerin und male und gestalte seit meiner Kindheit schon mein ganzes Leben lang.

Programmierung an einem guten Projekt startet mit einer leeren Seite im Code-Editor, das ist genauso gut wie eine leere, weisse Leinwand. Programmierung erfordert einen erheblichen Planungsaufwand, genau wie zum Beispiel ein Bildmotiv erstmal komponiert werden muss, wie man den Bildausschnitt festlegt, die notwendigen Details ermittelt und die Farb- und Lichtstimmung erarbeitet.

Aber wenn man den Blueprint einmal hat, gehts los – und da kommt aber ganz groß die Kreativität und die Erfahrung zum Einsatz. Kunst muss man auch lernen, die unterschiedlichen malerischen und gestalterischen Techniken erfordern erhebliches Knowhow über unterschiedliche Materialien und Verarbeitungsweisen. Schnelltrocknende Acrylfarben erfordern eine ganz andere Vorangehensweise als Ölfarben, die tagelang zum Trocknen brauchen. Ein Visual Basic Programmerl in Excel oder Word löst schnell mal ein Office-Problem, eine grosse Datenbankanwendung erfordert exakte Planung und passgenaue Detailarbeit.

Wir waren bei der leeren, weissen Leinwand: das ist der Casus Knacktus, ein guter Programmierer erschafft ein funktionierendes Produkt aus dem Nichts. Ich rede hier nicht vom zusammenkleistern fertiger Codeschnipsel aus Programmbibliotheken (schöne Grüße an alle *.js Programmierer), ich rede von Software Engineering, nicht von der Zusammenklitterung endlosen Codeeintopfs aus aus vorgefertigten Schnipseln, die buntgemischt in der Brühe schwimmen wie die Zutaten einer Hochzeitssuppe. Ich spreche von Software-Architektur, und die hat viel gemeinsam mit der kreativen Leistung des Architekten bei einem frei geplanten Gebäude.

Man legt ein Fundament aus den Unternehmensdaten, oft ist dies eine schon vorhandene Datenbank, ein bestehendes ERP/CRM-System. Darauf baut man die unterschiedlichen Module auf. Durch die Tür oder den Lieferanteneingang kommen neue Daten (Kundenstamm, Bestellungen, Aufträge…) herein, durch die Auftragsabwicklung werden Antwortschreiben generiert und Geschäftsprozesse angestossen, die das ganze Unternehmen über die Auftragserfassung- und Abwicklung bis hin zur Produktion abbilden. Schliesslich gehts zur Warenausgabe an den Kunden, hier werden die fertigen Produkte oder Dienstleistungen ihrem Empfänger zugeteilt. Am Ende baut man noch einen Qualitätssicherungsmechanismus, eine Reklamationsbearbeitung und die evtl. nötige Nachbesserung nach Kundenwünschen mit ein, und so hat man am Ende eine ganze Fabrik dastehen, die die Geschäftsprozesse eines Unternehmens nicht nur abbildet, sondern verantwortlich trägt.

Das, liebe Leser, ist Softwarearchitektur, und nicht nur Code-Erzeugung. Es ist auch komplett unabhängig von den verwendeten Programmiersprachen und sonstigen Hilfsmitteln wie Frameworks und Programmbibliotheken. Und was heutzutage sehr oft übersehen wird: es läßt sich nicht alles auf einer Internetseite abbilden.

Der eigene Webauftritt mutiert heutzutage oft zum Selbstzweck und soll eine eierlegende Wollmilchsau werden, in die Planung einer neuen Webseite wird oft viel zuviel von den lebensnotwendigen Unternehmensabläufen mit hineingepfropft. Es mag zwar in vielen Fällen akzeptabel sein, für die Mitarbeiter Intranetlösungen für die tägliche Arbeit bereitzustellen, aber wesentlich öfter wird es angebracht sein, Standalone-Lösungen auf der Datenbank und mit den eingesetzten Office-Produkten zu realisieren.

Das wird heutzutage gern belächelt, Visual Basic zum Beispiel wird gerne als „Programmiersprache für arme Bastler“ abgetan, und ein Excel- oder Wordmakro als handgestrickter Popelkram belächelt. Da ist wieder Umdenken angesagt, gerade die „kleinen“ Office-Lösungen sind es, die den Mitarbeitern wirklich das Leben leichter machen. Sei es die Serienbrieffunktion für die Sekretärin, der ODBC-Zugriff auf die Datenbank mit Excel für den Controller, der damit seine Berichte erstellt, oder die Unternehmenskennzahlen, Umsätze, Rückläufe uvm. für die Geschäftsführung, die danach ihre Business-Entscheidungen trifft. Ein Software-Architekt berücksichtigt alle diese unterschiedlichen Bedürfnisse, und baut das Haus und seine Module entsprechend der tatsächlichen Anforderungen.

Hier ist Raum für große Pläne und freie schöpferische Tätigkeit sowie für echte Kreativität, und hier ist auch Raum für die Akzeptanz der Mitarbeiter des Unternehmens, deren Feedback für den Softwarearchitekten dasselbe ist wie Applaus und gute Kritiken für einen Künstler. Ein erfolgreicher Usability Test ist wie eine gelungene Konzertpremiere, und ein gelungenes User Interface gleicht sehr einem durchdacht komponierten Gemälde, das beim Publikum gut ankommt.

Ich werde oft darauf angesprochen, wie ich meine zwei Berufe als Programmiererin und als Künstlerin unter einen Hut bringe. Das ist ganz einfach: es gibt so viele Parallelen, der kreative Schaffensprozess ist in beiden Fachgebieten vorhanden, und meine Liebe zum Detail und die geradlinig logische Denke kommt bei mir in beiden Berufen gleich gut zum Zug. Programming is like Poetry, heißt es oft, und obwohl ich jetzt nicht gerade gereimte Codezeilen verfasse, finde ich doch Gefallen an wohlstrukturierten Programmen und einer sauber durchkomponierten Software.

Deswegen: gute Programmierung oder besser gesagt gutes Software Engineering ist für mich eine Kunstform, und nicht zuletzt: sie kann auch unheimlich Spaß machen. Deswegen liebe ich meinen Beruf, und bin auch nach 30 Jahren im Geschäft immer noch fasziniert und positiv angesprochen von den vielfältigen Herausforderungen, die einem anspruchsvolle Softwareprojekte bieten. Ich bin eine alte Programmiererin, und soweit ich es absehe, werde ich mit den Jahren auch noch eine uralte Programmiererin werden, weil ich nicht daran denke mit der nahenden Rente auch meinen Beruf aufzugeben. Ich werde noch bis ins hohe Alter an Softwareprojekten mitmischen, und meinen Spaß daran haben!