Lernen ohne Computer ist heutzutage fast undenkbar. Schon in der Grundschule wird gegooglet was das Zeug hält, und da geht es schon los mit der Tücke der Methode: Lösungen werden abgespeichert und bei Bedarf wieder aufgerufen, man merkt es sich nicht im Kopf, man benutzt den Computer als externe Memory fürs eigene Gehirn. Die Smartphone- und Tabletnutzer werden immer jünger, und sie sind nur mit roher Gewalt von ihrem mobilen Internetzugang zu trennen. Ich rede hier mal noch gar nicht von Social Media, es geht schon damit los dass für jede noch so triviale Frage die Lösung zuerst im Internet gesucht wird, statt das eigene Erinnerungsvermögen einzuschalten.
Im Englischen gibt es dafür zwei sehr fein unterscheidende Begriffe, Recognition und Recall, das sind Wiedererkennung und Entsinnen. Recognition ist das, was beim Googlen am schnellsten greift. Man erkennt anhand von Satzfragmenten und Wortfetzen sehr schnell, ob der Google-Eintrag eine Lösung für mein aktuelles Problem bieten könnte, und wenn dem so ist, setze ich ein Bookmark, damit ich die Lösung auch wiederfinde, wenn ich sie brauche.
Recall funktioniert anders. Dabei nimmt man sich konzentriert einen Augenblick Zeit, geht in das eigene Erinnerungsvermögen und fördert Wissen zutage, das man sich durch Übung, Erfahrung und Wiederholung erworben hat. Dieses Wissen ist ein Schatz, und auch ganz ohne Internet nutzbar. Jeder hat da seine eigenen Schätze, ich zum Beispiel habe eine ganze Datenbank voller Kochrezepte in meinem Oberstübchen abgespeichert, eine meiner besten Freundinnen hat hunderte von Gedichten auswendig parat, und das sind nur winzige Bruchteile dessen, was das menschliche Gehirn so abspeichern kann. Sprachen und Vokabeln speichert man dort oben ab, auch Programmiersprachen, wobei hier die Grenzen fliessend sind.
Ich habe in den 1980er Jahren meine erste Programmiersprache Standard-Pascal gelernt, damals noch mit Lochkarten und schriftlicher Ausgabe an Decwriter-Terminals. Der Unterricht fand zum grössten Teil theoretisch statt, wir lernten Datentypen und Sprachelemente von der Pike auf, den Unterschied zwischen for.. next und do…while, repeat…until und do…case haben wir uns reingezogen bis wir es im Schlaf beherrschten. Denn die Rechnerzeit war knapp bemessen und teuer, wir konnten es uns nicht erlauben bei der Eingabe viele Fehler zu machen oder gar durch ausprobieren Fehler auszumerzen, das musste möglichst schon im ersten Anlauf klappen.
Von dieser soliden Basis habe ich mein ganzes Berufsleben lang profitiert, ich habe neue Programmiersprachen immer auf das alte Fundament aufbauen können, ohne jemals die Grundlagen nochmal nachschlagen zu müssen. Die habe ich parat in meinem Gehirn, das sitzt und ist bei Bedarf sofort abrufbar. Ein Array ist ein Array, ein Integer und ein Float sind in jeder Programmiersprache ähnlich definiert, man macht immer gerne Offset-by-One-Fehler, und die Sonderbehandlung der deutschen Umlauts ist fast überall ein Kapitel für sich. Ob Pascal oder C#, Visual Basic, PHP oder Javascript, der Wiedererkennungswert ist hoch, am ehesten macht einem noch die Grammatik und Interpunktion zu schaffen. Kommt am Zeilenende ein ; oder ein <br>, wie benennt man Variable ($test, test01) und Konstanten, nimmt man bei Strings doppelte ” oder einfache ’ Hochkommata, das sind so die kleinen Stolpersteine, wenn man zwischen unterschiedlichen Programmiersprachen wechselt. Ansonsten: ich bekenne mich schuldig, neue Programmiersprachen lerne ich per Google und Copy&Paste, und mir reicht es wenn ich weiß wo ich eine Lösung gespeichert habe, ich muss nicht alles auswendig können.
Ich habe allerdings in fast 30 Jahren Berufsleben nur einmal (in der IHK-Prüfung zum Fachinformatiker) eine Klausur schreiben müssen, in der man keinen Computer benutzen durfte, und die hab ich auch nur mit Ach und Krach geschafft. Den praktischen Teil der Prüfung, ein Programmierprojekt, hab ich dafür mit 100 von 100 Punkten abgeschlossen, das hats dann wieder ausgeglichen. Aber die theoretisch/schriftliche Prüfung war ein Desaster, ich hatte ja den Stoff nicht im Kopf, sondern nur auf meinem Notebook abgespeichert. Das blüht jedem, der ausschliesslich am Computer lernt: kein Computerzugriff, keine Erinnerung, Prüfung versemmelt.
Das ist jetzt im richtigen Leben, speziell im Berufsleben, nicht wirklich ein Beinbruch. Im Normalfall hat man ja am Arbeitsplatz immer Computer- und Internet-Zugriff, und es wird auch nicht erwartet dass man auf den Schlag Problemlösungen wie Karnickel aus dem Zauberhut zieht. Im Regelfall wird man erstmal recherchieren, dabei aus mehreren Lösungen die praktikabelste aussuchen und auf die aktuellen Probleme anpassen. Anders gehts auch gar nicht mehr, niemand hat mehr die Zeit neue Programmiersprachen, Konzepte und Standards von der Pike auf zu lernen. Man springt eigentlich immer ins kalte Wasser, mit Tante Google als Rettungsleine. Ohne die unzähligen Supportforen und Online-Tutorien, ohne Codesammlungen und Programmbibliotheken kann in der IT heutzutage niemand mehr arbeiten. Niemand kann das alles im Kopf haben, dazu gibt es zu schnell zu viel Neues auf allen Gebieten.
Das erfordert aber noch eine ganz andere Fähigkeit: man muss in der Lage sein, Lösungen auch wiederzufinden. Und das geht nur mit Disziplin und Selbstorganisation — es hilft sehr, wenn man sich mal eine sinnvolle Struktur von Desktop und Festplatte (auch externe bzw. Serververzeichnisse) überlegt hat, und sich dann auch daran hält. Und alle paar Jahre mal sollte man Großreinemachen… ich habe sehr selten Programmbibliotheken noch einmal gebraucht, wenn sie einmal älter als 10 Jahre waren. Ein guter Zeitpunkt dafür ist es, wenn man sich einen neuen PC zulegt, dann kann man bei der Datenübernahme gleich mal Großputz machen. Ich lagere selten benutzte Software dann gern auf eine externe Festplatte aus, damit ich im Notfall doch wieder dran kann, habe das allerdings noch kaum gebraucht. In der extrem schnelllebigen Branche, die ich mir ausgesucht habe, darf man auch getrost vieles einfach wieder vergessen, weil man es garantiert nie wieder braucht.
Bei der stetig steigenden Informationsflut, die tagtäglich auf jeden von uns niederprasselt, muss man sogar gezielt das schnelle Vergessen üben, damit man sich das Gehirn nicht mit nutzlosem Schrott verstopft.
Eine beliebte Methode ist es, sich alles irgendwie (als Link, Bookmark, Screenshot…) abzuspeichern, wenn man glaubt es irgendwann wieder gebrauchen zu können. Das verstopft Festplatten und USB-Sticks, das geht Mega- und Gigabyteweise in die Cloud und treibt da im Zweifelsfall die Kosten hoch, und kein Mensch findet jemals etwas wieder. Vergesst es einfach — mindestens 99% von dem ganzen Schotter interessiert in ein paar Tagen (oder Wochen, Monaten, Jahren) kein Schwein mehr. Da ist es oft schlauer, neu zu googlen, als in der endlosen Speicherplatzwüste etwas wiederfinden zu wollen. Mut zum Vergessen — und es ist sogar wahrscheinlich, dass es inzwischen eine schlauere Lösung für ein bestimmtes Problem gibt. Zum Beispiel eine neue Programmiersprache, einen neuen Standard, eine neue Methodik. Und dann frisch auf, wir lernen etwas ganz Neues — das macht Spaß und ist Gehirnjogging vom Feinsten. Ich nehme mir die Freiheit, weiter mit einer Kombination aus Recall (Grundlagenwissen) und Recognition (ergooglete Lösungen und Codesnippets) zu arbeiten. Zumindest am Arbeitsplatz. Wenn ich wieder mal in die Verlegenheit kommen sollte, eine Klausur ohne Computer schreiben zu müssen, werde ich anders lernen müssen, dann muss der Stoff ins Gehirn, nicht auf die Festplatte. Wenn man sich das klar macht, kann man andere Lernstrategien einsetzen, und dann klappts auch mit der Prüfung. Mal sehen — zum Abenteuer Lernen wird es hier sicher noch ein paar Artikel geben, da hab ich noch viel vor. Bis dann viel Spaß beim Abspeichern und Wiederfinden! 🙂