Praxis Dr. Inselfisch

Psychologie, Philosophie und Programmierung

Dolce far niente muss man auch erstmal können

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Ich habe einen grossen Teil mein­er Teenagerzeit in Ital­ien ver­bracht, da hat­te ich ein­fach unver­schämt Glück und bin in einem Schüler­aus­tausch­pro­gramm der Städte München und Verona zu ein­er Fam­i­lie gekom­men, mit der ich mich her­vor­ra­gend ver­standen habe, beson­ders mit der Mam­ma, der wun­der­baren Sig­no­ra Fani­ni. Die Fam­i­lie besass einen grossen Gut­shof und aus­gedehnte Län­dereien, auf denen vor allen Din­gen Obst ange­baut wurde. Ich ver­brachte während mein­er Gym­nasialzeit alle Som­mer­fe­rien bei den Fani­nis, und verin­ner­lichte dort nicht nur die Sprache und die Kochkun­st, son­dern auch die ital­ienis­che Leben­sart. Die Fani­nis waren wohlhabend, aber sie waren auch fleis­sig. Die Plan­ta­gen erforderten das ganze Jahr lang viel und harte Arbeit, und nicht nur die Lohnar­beit­er langten kräftig hin, auch die Fam­i­lie schaffte nach Kräften in der Land­wirtschaft mit. Das ging während der Sai­son bei Son­nenauf­gang los, spätestens um fünf traf man sich in der Küche auf einen Espres­so, und dann ging es raus auf die Felder.

Sig­no­ra Fani­ni kochte jeden Tag ein währschaftes Mit­tagessen für alle, die auf dem Gut­shof arbeit­eten, und es sassen pünk­tlich um Zwölf die ganze Fam­i­lie und alle Arbeit­er an der lan­gen Tafel in der herrschaftlichen Vil­la. Da wurde gemein­sam geschlemmt, denn die Sig­no­ra war eine fan­tastis­che Köchin. Und nach dem Essen wurde geruht, im Som­mer bis die grösste Tageshitze vor­bei war, also min­destens bis um vier Uhr. Dafür zog sich jede und jed­er in sein Schlafz­im­mer zurück, hin­ter ver­schlossene Fen­ster­lä­den, die die grösste Hitze abhiel­ten. Erst gegen frühen Abend kamen alle wieder her­aus, und dann gab es nochmal einen frischen Espres­so oder auch gle­ich einen Caf­fé cor­ret­to (Espres­so mit einem Schuß Grap­pa) für die Manns­bilder. Danach ging es nochmal auf die Plan­ta­gen, aber eigentlich wur­den jet­zt nur noch abschliessende Arbeit­en geleis­tet, bere­its gepack­te Obst­steigen einge­sam­melt, gejätetes Unkraut weggekar­rt, die Bewässerung für den Abend eingestellt. Dann wurde die heutige Ernte noch zum Grosshändler gefahren, das war die wichtig­ste Arbeit zum Tagesab­schluss. Da wurde es dann schon sieben, acht Uhr und später, ehe man Feier­abend machen kon­nte.

Den Feier­abend ver­bracht­en die Arbeit­er und die Män­ner der Fam­i­lie mit gross­er Begeis­terung auf der Piaz­za des kleinen Ortes, da gab es eine Sports­bar und eine Trat­to­ria und ein Eis­cafe. Man ass ein Sand­wich und trank un Bic­chiere di Vino oder auch una Bir­ra Grande dazu, viel Hunger hat­te kein­er, weil Mit­tags so geschlemmt wor­den war. Wenn man ein Glas getrunk­en und einen kleinen Imbiss gegessen hat­te, übte man sich in der typ­isch ital­ienis­chen Abendbeschäf­ti­gung, die das Leben jed­er Piaz­za Cen­trale ist: “fare la passegia­ta”. Man spaziert, rund um die Piaz­za, man sieht wer son­st noch aller da ist und grüßt sich mit aus­ge­suchter Höflichkeit, man bleibt am Cafe oder an der Bar auf ein Schwätzchen ste­hen, man zieht sich für per­sön­liche Gespräche mit Fre­un­den auf eine Bank unter den Pla­ta­nen zurück.  Man disku­tiert das Tages­geschehen und was heute in der örtlichen Zeitung stand, man unter­hält sich über den Stand der Land­wirtschaft und über die Obst­preise, der Bürg­er­meis­ter informiert aus erster Hand über die Lokalpoli­tik, und der Herr Pfar­rer tut das selbe aus Sicht der katholis­chen Kirche — spätestens jet­zt müssten Ihnen die wun­der­baren alten Don-Camil­lo-Filme in den Sinn kom­men. So läuft — oder lief — der Feier­abend in einem kleinen Land­städtchen in Ober­i­tal­ien, alle trafen sich auf der Piaz­za, und es wurde gere­det, gelacht und schon auch mal gestrit­ten, aber auch wieder ver­söh­nt. Bis etwa gegen Mit­ter­nacht, dann wurde es höch­ste Zeit heim und ins Bett zu gehen, denn am näch­sten Mor­gen ging es wieder bei Son­nenauf­gang raus.

Beson­ders während der Obst­sai­son wurde auf der Plan­tage wirk­lich lang und hart gear­beit­et, aber es wurde auch darauf geachtet, dass man Zeit zur Erhol­ung fand. Die aus­gedehnte Sies­ta nach dem gemein­samen Mit­tagessen glich den kurzen Nachtschlaf aus, und fare la Passegia­ta am Abend deck­te die Bedürfnisse nach Kom­mu­nika­tion und das Zusam­menge­hörigkeits­ge­fühl im Städtchen ab. Das ist jet­zt vierzig Jahre her, ich weiss nicht ob der Leben­srhyth­mus im ländlichen Ober­i­tal­ien noch den alten, bewährten Mustern fol­gt. Aber ich erin­nere mich gut daran, dass die Men­schen in San Gio­van­ni Lupa­to­to (so hiess das Städtchen) durch die Bank fre­undlich, höflich und aus­geglichen waren. Work-Life-Bal­ance heisst das Geheim­nis dieser Aus­geglichen­heit auf Neudeutsch, und in unser­er schnel­llebi­gen Leis­tungs­ge­sellschaft find­et man sie sel­ten. Im Land­städtchen San Gio­van­ni bei Verona war sie ein Teil der Leben­sart, und ich hat­te wirk­lich aus­ge­sprochen gross­es Glück, daran teilzuhaben. Wer weiss, wäre ich ein paar Jahre älter gewe­sen, hätte ich vielle­icht einen passenden jun­gen Mann aus dem Städtchen ken­nen­gel­ernt — die Passegia­ta ist auch ein Heirats­markt — und wäre dort geblieben, wo die Uhren anders gehen und die Leben­szeit bekömm­lich­er eingeteilt wird.

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