Wenn man den gängigen Untersuchungen und Studien glauben soll, trifft ein Mensch in unserer heutigen Zeit ungefähr 20.000 Entscheidungen am Tag, manche sagen auch 30.000 und mehr. Das ist ein Haufen Holz — zigtausend Mal ja oder nein, oder dies oder das, oder gar auch noch mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. Logisch, dass da die meisten Entscheidungen blitzartig und ohne grosses Nachdenken gefällt werden, dafür haben wir unseren Instinkt, unsere erworbenen Erfahrungen und unser Bauchgefühl. Wenn man sich nämlich lange mit gedanklichen Abwägungen aufhält, kommt man gar nicht durch den Tag, das muss alles in einer affenartigen Geschwindigkeit passieren. Vieles davon ist auch trivial und anscheinend ohne grosse Konsequenzen. Anscheinend.
Hau ich morgens meinem Wecker nochmal auf die Snooze-Taste? OK, aber dann fehlen mir nachher die fünf Minuten beim Frühstück, und es reicht nicht mehr für die zweite Tasse Kaffee, weil ich aus dem Haus muss. Das hat zur Folge, dass mein Gehirn noch nicht ganz wach ist beim Autofahren, und ich die Entscheidung, ob ich bei der Ampel bei Gelb noch anhalte oder ob ich weiterfahre nicht rechtzeitig fälle — und prompt Rot und den freundlichen Blitzer erwische. Was wiederum zur Folge hat, dass ich schon verärgert und angefressen im Büro erscheine und den Kollegen, der jetzt in der Früh schon etwas von mir will erstmal anblaffe, statt ihm zuzuhören — dabei hätte der eine wichtige Lösung für ein Problem, an dem wir schon tagelang herumkauen. Deswegen musss ich dem Chef, der wenig später nach dem Stand der Dinge fragt, leider mitteilen dass wir noch keinen Schritt weiter sind, und der entscheidet prompt, das dem Kunden auch so mitzuteilen und schlechte Publicity für unser Team zu produzieren. Ganz davon abgesehen dass der Abgabetermin für das Projekt nochmal verschoben werden muss, und die Buchhaltung entscheiden muss dass vorläufig noch keine Rechnung gestellt werden kann.… und das alles bloss, weil ich auf die Snooze-Taste gehauen habe!
Ich hab das jetzt nicht wirklich übertrieben, so laufen Entscheidungsketten nunmal ab — sobald menschliche Gehirne involviert sind, kann man keine strikt logische Kausalkette mehr berechnen wie es zum Beispiel beim Ablauf eines Computerprogramms der Fall ist. Menschen entscheiden oft aus nicht rationalen Gründen, das müssen sie tun, weil sie so unter Zeitdruck stehen. Ganz besonders schlimm ausgeprägt ist das in meiner Branche, der Informatik. IT-Projekte stehen notorisch unter Volldampf und hätten immer gestern schon fertig sein müssen,weil irgend jemand bei der Einschätzung des voraussichtlichen Zeitbedarfs und Arbeitsaufwandes komplett falsch entschieden hat. Das kommt daher, weil man sich in den meisten Fällen mit neuen und unerprobten Technologien herumschlagen muss und nicht auf Bewährtes und jahrelang Geübtes zurückgreifen kann, deswegen gehen so viele Projektentscheidungen in der IT auch komplett in die Hosen.
Hätte ich meinen Jugend-Berufswusch verwirklicht und Möbelschreiner gelernt, würde ich ganz anders arbeiten können. Das Schreinerhandwerk ist ein traditionsreicher, altehrwürdiger Beruf, und ein Tisch oder Stuhl aus Holz wird heute nicht viel anders gefertigt als vor vielen hundert Jahren schon. Es gibt erprobte Bemassungen und Arbeitsweisen — wie hoch soll die Sitzfläche oder die Tischhöhe sein, welche Verzapfung verwendet man für eine gefugte Rückenlehne, wie montiert man die Tischbeine an der Zarge so dass sie nicht wackeln und stabil bleiben. Man kann auf einen Jahrhunderte alten Erfahrungsschatz zurückgreifen, das wird jedem Lehrling beigebracht und jeder junge Meister verfeinert und vervollkommnet das altüberlieferte Wissen, ehe er es mit seinen eigenen Ideen anreichert und sein Meisterstück anfertigt. Die Werkzeuge — Säge, Bohrer, Hobel, Schleifgerät — sind auch seit Jahrhunderten die selben, nur wird heute vieles elektrisch angetrieben, was man früher mit Dampf, mit Wasserkraft oder mit reinem Irxenschmalz (bayr. für Muskelkraft) machte. In traditionell geführten Werkstätten arbeitende Möbelschreiner leiden höchst selten unter Stress, und Burnout ist ein nahezu unbekanntes Phänomen in der Branche. Bei den ITlern erwischts nahezu jeden früher oder später, deswegen gibt es so wenige ältere Arbeitnehmer in der Branche, die habens alle schlicht aufgegeben und haben die Branche gewechselt, oder sind aus gesundheitlichen Gründen in Frührente geschickt worden
Nach einer Studie der Pronova BKK leiden 87% der deutschen Arbeitnehmer unter Stress, jeder zweite (!) fühlt sich vom Burnout bedroht. Als Hauptursache für den Dauerstress wird der ständige Termindruck genannt — und da sind wir wieder bei unseren Entscheidungen gelandet. Zeitdruck verlangt noch schnellere Reaktionsfähigkeit, noch schnelleres Umschalten, noch schnellere Trefferquote bei allem was wir tun… und das geht bei Dauerstress nie gut, wer gestresst ist neigt zu Panikreaktionen und Fehlentscheidungen. Wer ständig nur noch defensiv Probleme niederknüppeln muss, kann nicht produktiv arbeiten, und das haut auch dem Stärksten schnell auf die Gesundheit, dann macht der Beruf uns krank.
Was hilft dagegen?
Ganz offensichtlich nur eins: Stress reduzieren. Mehr Zeit zum Nachdenken haben. Projekte in Ruhe planen und wohlüberlegt durchziehen. Reaktionen und Antworten besser abwägen, wichtige Entscheidungen gut überdenken. Wenn das immer so einfach wäre… oft geht es nur mit einem Jobwechsel, und ob es dann in der neuen Firma wirklich besser ist, darauf kann man sich auch nicht verlassen. Arbeitszeit reduzieren ist auch ein gutes Mittel gegen Dauerstress, wer sich nur noch halbtags mit dem täglichen Wahnsinn auseinandersetzen muss, hat mehr Zeit zum erholen dazwischen und ist dem Dauerstress meistens besser gewachsen. Leider ist das noch nicht wirklich zu unseren Arbeitgebern durchgedrungen, meistens sind 40+ Wochenstunden die Regel. Teilzeitstellen werden höchstens noch im öffentlichen Dienst angeboten, die sind da etwas fortschrittlicher, das kommt daher dass sie bei gleicher Eignung auch Arbeitnehmer mit Handicap einstellen müssen, die sind halt nicht Fulltime belastbar.
Am Ende muss jeder selber entscheiden, was er gegen die tägliche Entscheidungsflut unternimmt, und ob er das seiner Gesundheit noch zumuten kann und will. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit dürfte dabei der stärkste Entscheidungsfaktor sein, deswegen arbeiten ja auch so viele Menschen bis zum Umfallen, bis sie krank werden und einfach nicht mehr können. Da ist was faul in unserem Staat, aber das ist eigentlich schon ein ganz anderes Thema, das lasse ich jetzt mal so stehen.
Und wünsche ihnen eine stressfreie Zeit, wenigstens über die Feiertage — machen sie mal langsam. Die wichtigste Entscheidung ist jetzt, ob ich erst ein Vanillekipferl oder erst einen Lebkuchen esse, und ob ich mir einen Milchkaffee oder einen schönen Earl Grey dazu koche. Und dann entscheide ich noch, ob heuer Lametta an den Christbaum kommt oder nicht, und ob ich rote oder gelbe Kerzen aufstecke. Das sind jetzt wirklich wichtige Dinge, die wohl abgewogen werden möchten — meinen sie nicht auch?