München, späte 60er Jahre: die Neuzeit hält Einzug

Ende der 60er Jahre wagten Mami und Papi den Sprung in die Selbständigkeit und gründeten ihr eigenes Buchführungsbüro. Um dafür Platz zu schaffen, wurde auf der Gartenseite des Hauses ein  großzügiger Anbau errichtet. Den Bauplan entwarf ein Freund der Familie, der Onkel Giulio. Er war Architekt, ein halber Italiener und ein ganzes Genie 🙂 Der Anbau wurde eine innovative, hochmoderne architektonische Meisterleistung. Der Bau war zwei Stockwerke hoch und innen bis zum Dachfirst offen, auf der Südseite gab es ein klimatisierendes grosses Blumenfenster, auf halber Höhe wurde eine Empore eingezogen, da hatten Mami und Papi ihr Büro. Unten war das Wohnzimmer, das wurde allerdings nur zu Sonn- und Feiertagen benutzt. Zu Weihnachten stand hier ein drei-Meter-Christbaum, der hatte in dem lichten hohen Raum locker Platz.

Für die eigene Firma wurde dann das erste Telefon im Haus angeschafft. Wir Kinder durften es tagsüber nicht benutzen, weil die Leitung fürs Geschäft freigehalten werden mußte. Und wenn wir mal telefonierten, mußten wir die Einheiten vom Zähler ablesen und ins Telefonbüchlein eintragen, die wurden einem dann vom Taschengeld abgezogen. Bei 20 Pfennig pro Einheit überlegte man es sich dann schon genau, wie lang man telefonierte! Heute im Zeitalter der Handys und Flatrates unvorstellbar, aber wir Kinder schwangen uns eher aufs Radl und besuchten unsere Freunde, statt daß wir sie antelefonierten.
Für die Firma wurde dann auch das erste Auto angeschafft, ein kleines grünes Schnauferl von einem Fiat 450. Der war wirklich nicht groß, aber er brachte uns zum Skifahren und zum Bergsteigen, und mit Sack und Pack und Zelt und Schlafsack auch zum Campingurlaub nach Italien. Zwei Erwachsene, drei Kinder und ein Dackel hatten Platz in dem kleinen Auterl, rückten wir halt ein bißchen zusammen, das ging schon 🙂

Nicht nur bei uns wurde gebaut, auch die Stadt München modernisierte sich. Als die Stadt damals den Zuschlag für die olympischen Spiele 1972 bekam, wurde allerorten neu gebaut. Unter dem jungen Bürgermeister Hans-Jochen Vogel entstand auf dem Oberwiesenfeld, einem ehemaligen Flugplatz und Schafweidegelände, das nagelneue Olympiagelände mit dem Zeltdach und dem Fernsehturm. BMW baute den hochmodernen „Vierzylinder“ und die „Suppenschüssel“, das BMW-Museum. Die ersten U-Bahnlinien wurden gebaut, sie führten vom Marienplatz in der Innenstadt bis hinaus zum Olympiapark und zum Kieferngarten im hohen Münchener Norden. In der neugeschaffenen Fußgängerzone herschte geradezu weltläufiges Großstadtflair, und in Schwabing boomten die Kneipen und Diskotheken, sowie die Flaniermeile an der Leopoldstrasse. München war vom beschaulichen Millionendorf zur Großstadt mit Herz geworden, und wir Münchner waren allesamt stolz auf unsere schöne neue Stadt und hießen die vielen Besucher aus aller Welt herzlich willkommen.

München gründete damals auch die Städtepartnerschaft mit dem oberitalienischen Verona, die bezaubernde Statue der Julia am alten Rathaus ist Zeugin und Denkmal für die Städtefreundschaft. Für mich hatte dies eine besondere Bedeutung, ich durfte nämlich später im Gymnasium auf Schüleraustausch nach Verona und habe dort die italienische Sprache, die Küche und die Lebensart kennengelernt, aber dazu später mehr.

Jedenfalls herrschte in München vor der Olympiade Aufbruchsstimmung, der Wirtschaft ging es glänzend, die Besucherzahlen stiegen und stiegen, man ließ es sich gutgehen und feierte gerne. Man saß in den Straßencafes in Schwabing, in den traditionellen Biergärten am Chinaturm und beim Augustiner.  Abends ging es in die Disko in der Occamstrasse, und wer die ganze Nacht durchhielt ging dann noch zum Frühstücken auf den Viktualienmarkt oder in den Schlachthof, da gabs früh ab viere schon Weißwürscht 😀

Das Motto der Stadt lautete „Leben und Leben lassen!“, und das hieß nicht nur bloß Leben, sondern auch es sich gutgehen lassen und die schönen Seiten genießen. Schön wars, ich denke gern an diese Zeit zurück!