München, Harthof: Familienparadies im Glasscherbenviertel

Meine Mami und ihr Herr Oberbuchhalter heirateten 1962, und wir zogen in das schöne große Haus am Harthof, das sich der Papi mit eigener Hände Arbeit und eiserner Sparsamkeit geschaffen hatte. Bald darauf kam mein Bruder Stefan zur Welt, und noch ein wenig später unsere Schwester Johanna, das „Stutzerl“, unser Nesthäkchen. In dem Haus wohnten drei Familien mit insgesamt neun Kindern, da ging es schon lebhaft zu!

Aber es ging uns allen prima, wir wohnten in einem regelrechten Kinderparadies. Die Wohnungen waren allesamt so großzügig geschnitten, dass es schöne, helle, geräumige Kinderzimmer gab. Und erst der Garten! Runde 1000 qm eigener Grund, und was gab es da nicht alles für Herrlichkeiten: einen Sandkasten, ein Planschbecken für den Sommer, eine Obstbaumwiese, eine Kletterbirke mit Baumhaus, zwei Holzschupfen mit einer großen hölzernen Schaukel dran, einen Gemüsegarten, wo sich jedes Kind ein eigenes kleines Beeterl für die ersten Gärtnerversuche anlegen durfte, und noch vieles, vieles mehr. Es gab eine große Terasse, wo an schönen Sommerabenden Familie und Freunde draussen sassen und grillten und sich des Lebens freuten bis spät in die Nacht. Im Winter bauten wir im Garten Schneemänner und ganze Iglus, im Sommer durften wir im Garten zelteln und draussen Übernachten. Ich könnte noch lange so weitererzählen, aber ich will euch auch mal sagen, was es nicht gab.

Wir hatten kein Telefon, kein Auto und keinen Fernseher, sondern nur einen Röhrenradio. Fließend warmes Wasser gab es auch nur, wenn man extra den Boiler anheizte, gebadet wurde Samstag, ansonsten gab es jeden Morgen Waschlappenwäsche und Zähneputzen mit kaltem Wasser.

Die Strasse vor dem Haus war am Anfang noch nicht einmal geteert, es fuhr kein Bus und keine Trambahn zum Harthof. Das machte aber gar nichts, man kam ja zu Fuß oder mit dem Radl überallhin. Eingekauft wurde beim Metzger Reindl zwei Häuser weiter oder beim Bäcker und beim Edeka drüben an der Dientzenhofer Strasse. Was an Obst und Gemüse nicht im eigenen Garten wuchs holten wir in der traditdionsreichen Gärtnerei am Hart, die gibt es heute noch, mittlerweile als beschützende Institution für Menschen mit Behinderung.

Der Kindergarten war nicht weit weg in der Rothpletzstrasse, und die Volksschule an der Bernaysstrasse gerade mal drei Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt. Wir fuhren im Sommer mit dem Radl zum Feldmochinger See und auf die Fröttmaninger Heide, und im Winter gab es ein Schlittenbergl in der kleinen Grünanlage gegenüber.

Wir hatten wirklich alles was wir brauchten in unmittelbarer Nähe, und in unserem kinderreichen Haus war nie etwas zu spüren davon, daß der Harthof als „Glasscherbenviertel“ und Problemzone der Stadt München galt. Für uns Kinder war es unsere schöne, vielfältige Welt, in der es jeden Tag etwas Neues zu entdecken und zu erleben gab. Nach heutigen Maßstäben lebten wir sicher sehr spartanisch, aber es kam nie das Gefühl auf, daß etwas fehlte. Es gab immer genug zu Essen, Oma nähte und strickte uns warme Sachen für den Winter und „feine“ Klamotten für Festtage. Es gab die schönsten Geschenke zu Weihnachten und zu Ostern versteckte Mami Osternester überall auf dem Grundstück, so daß wir immer tüchtig den Grips anstrengen mußten um sie zu finden…

Ich könnte noch lange so weitererzählen, aber jetzt laß ich es mal gut sein. Wir verbrachten jedenfalls eine glückliche Kindheit am Harthof, im schönen Haus mit dem grossen Garten. Der Herr Oberbuchhalter Johann lebt übrigens immer noch dort, er ist jetzt 93 und führt immer noch sein eigenes Buchführungsbüro im eigenen Haus. Sagenhaft, der alte Knabe! 😀